Deutsches Sommermärchen 2.0 (2024)

Reisen in Deutschland kann schön sein. Sehr schön. Die One Woman Show kommt diesmal aus Süddeutschland, der Traumheimat der Kolumnistin. Dass sie sich dabei fühlt, als würde sie ihre Heimatstadt betrügen, ist nur ihr Problem und vielleicht auch gut für die angespannte Beziehung.

Danke, Corona. Alles gestrichen dieses Jahr nach den Skiferien: Ostern Florida bei Freunden, Neues entdecken in New York, Sommerferien auf Ibiza, Klassenreise nach England, Schüleraustausch mit dem Französisch-Kurs, Messe in Cannes, Konzert in Lucca, Kanalschwimmen in Kopenhagen, Studieren in Amsterdam - meinetwegen hätte unser Leben ewig so weitergehen können. Manchmal ahnte ich, dass es das nicht würde. Dass alles zu viel, zu schnell, zu beliebig war.

Ein Interview in London oder Mailand? Kein Problem, der Flug geht um 7 Uhr (das heißt um 5 Uhr aufstehen), das Interview dauert eine halbe Stunde, Rückflug trotzdem erst abends, Ankunft zu Hause gegen 23 Uhr. Für ein einziges Interview. Das ist gefühlt nicht richtig, einen Nachhaltigkeitspreis bekommt man so nicht. Schöner als ein Telefoninterview ist es dennoch, Auge in Auge miteinander zu sprechen. Zu sehen, dass Will Smith spontan wirklich witzig ist. Bei Paolo Conte in seiner italienischen Kanzlei zu sitzen, mit Eros Ramazzotti zu flirten oder vor der Schönheit von Cate Blanchett zur Salzsäule zu erstarren - das ist natürlich unschlagbar. Aber eben nicht gut für die Umwelt. Und nicht gut für die Menschen, die ja nur noch hektisch waren vom ganzen Hin und Her.

Und so ist nun alles langsamer geworden - vieles ist ja gar nichts mehr, weil geschlossen, abgesagt oder pleite. Aber dies soll kein Text werden über das, was nicht ist und nicht mehr werden kann, und auch kein Text über verpasste Chancen und düstere Aussichten, dieser Text will den Tag loben. Und vor allem Dankbarkeit ausdrücken. Dankbarkeit darüber, in einem Land zu leben, in dem sich ein jeder frei bewegen kann (ich ahne Widerspruch), in dem "wir" das Corona-Dilemma so gut wie möglich hinbekommen haben - ich wage sogar zu behaupten: So gut wie sonst nirgends auf der Welt, danke Gesundheitssystem. Vor allem aber bin ich vollkommen euphorisiert, weil Deutschland, mein diesjähriges Urlaubsland, doch tatsächlich viel schöner ist, als ich dachte.

Eine Scheiß-Deutsche

Früher habe ich mich öfter geschämt, wenn ich als Deutsche im Ausland war. Und ich habe mich im Gegenzug immer extrem gefreut, wenn ich nicht als solche erkannt wurde. Auf einer Schülerfahrt in den Achtzigern war ich noch eine Nazi-Enkelin für die Franzosen an der Atlantik-Küste. Selbst wenn mein Opa im Widerstand oder jüdisch gewesen wäre, hätte das nichts geändert - ich war eine Scheiß-Deutsche. Die Frage allerdings, ob ich denn aus West- oder Ost-Berlin käme, entlarvte den Deppen mir gegenüber sofort: "Wenn ich aus Ost-Berlin kommen würde, dann wäre ich jetzt nicht hier, du Idiot!" Der Blick des Gegenübers wandelte sich dann meist von aggressiv-blöd in aggressiv-mitleidig: "Und fühlst du dich nicht furchtbar eingesperrt in West-Berlin?" kam dann nämlich mit 98-prozentiger Sicherheit hinterher. "Nicht so eingesperrt wie du, denn du scheinst hier ja noch nie weggekommen zu sein." Ob ich das mit dem Konjunktiv im Französischen hinbekommen habe, kann ich nicht mehr erinnern, dass ich mich fortan gern als Schwedin ausgegeben habe, schon.

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Ratgeber 20.07.20

"Es boomt wirklich" Corona macht Wandern wieder hip

So oder so: Mir war schon immer klar, dass Deutschland ganz hübsch ist, und ich ahnte, dass das Wandern mit den Eltern im Spessart, im Schwarzwald, im Fichtelgebirge oder im Allgäu in den Herbstferien zu irgendetwas gut sein musste. Jetzt weiß ich es, denn ich mache Urlaub in Deutschland: Die frühkindliche bis pubertäre Erinnerung in meinen hintersten Kopf-Schubladen hat mir alle Filme wieder abgespult, die ich je gespeichert habe.

Denn was gibt es Schöneres als den Duft von trockenem Heu auf einer Weide? Den intensiven Geruch von Kuhfladen in der brennenden Sonne? Eine einzigartige Flora und Fauna, die erst ab einer Höhe von 1500 Metern aufzufinden ist? Wie es duftet, wenn Holz nass ist, und wenn es dann wieder trocknet. Wie stolz man ist, wenn man ein Gipfelkreuz erreicht hat. Das alles ist im Gehirn verwahrt und kann nun, Jahrzehnte später, wieder abgerufen werden. Berge, auf denen man steht, geben einem das Gefühl, klein zu sein, sogar recht unwichtig in Anbetracht all der Natur um einen herum - das erdet ungemein. Als Belohnung gibt es den Blick auf das gegenüberliegende, majestätische Gebirge und das Tal dazwischen. Im besten Fall befindet sich ein kalter, kristallklarer See in dem Tal.

Regionale Rammdösigkeit

Als geborene Saupreußin weiß ich, dass ich in einem früheren Leben Bayerin war oder einem anderen Bergvolk angehört haben muss. Ich fühle Freiheit und Vertrauen, ich spüre Freundlichkeit und eine Art von Laissez-faire, das es in meiner geliebten Heimathauptstadt Berlin gerade nicht mehr gibt. Sicher, ein gewisses Fress-Koma und das eine oder andere Glas Rosé haben auch damit zu tun, dass sich diese Wohligkeit im Körper ausbreitet, dieses Wissen, dass die Milch tatsächlich von der Weide nebenan sein könnte, der Salat ohne Chemie gewachsen ist, der Alkohol aus den Weinbergen gegenüber stammt. Meine regionale Rammdösigkeit verschleiert mir den Blick schon so weit, dass mir der Söder Markus gar nicht mehr so schlimm vorkommt wie früher einmal.

Cate Blanchett fragte mich mal: "One Woman Show - is that the name of your show?" "Yes, Ma'am", denn sagen und schreiben was man denkt - welch ein Luxus! Ich trage meine silberne Uhr von ntv zum 25. Dienstjubiläum übrigens mit Stolz, und in der One Woman Show geht es gar nicht nur um Frauen.

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Dass ich anfange, bayerischen, später dann badischen Dialekt zu sprechen oder glaube zu sprechen, denn ich liebe Dialekte, ist da nur allzu selbstverständlich. Das ist natürlich peinlich für meine Familie, aber ich bin happy. Ich will einfach nicht sofort als Flachlandtiroler kategorisiert werden. Mein Credo: Ich wandere, also bin ich. Und zwar von vor Ort. Ich trage anständiges Schuhwerk und oute mich nicht mit peinlichen Sneakers, ich mache keine Selfies mit Kühen, sondern laufe strammen Schrittes an ihnen vorbei. Ich habe eine selbstgeschmierte Wurstsemmel dabei (okay, Veggie-Wurst) und fülle Wasser aus dem Bergbach in meine Blechflasche. Ich lobe die Landschaft über den grünen Klee und bestelle ordentlich a Maß und Soße nach. Ich grüße jeden, der mir auf den Wanderpfaden entgegenkommt. Ich grüße fortan auch jeden, der mit mir in Ortschaften an der Ampel steht. Meine Familie ist derweil schon bei Rot über die Straße gelaufen …

Abends dann falle ich in meine dicken Federkissen und träume gut. Auch von fernen Ländern, in die ich hoffentlich bald wieder fliegen werde - denn eindeutig ist es ganz wunderbar in der Heimat, aber es gibt noch so viel zu entdecken! I frrroi mi schon ganz narrisch drauf!

Deutsches Sommermärchen 2.0 (2024)

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Author: Allyn Kozey

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